Geschichte lesen

Ich erzähle euch heute eine Geschichte. Diese hat sich so (oder so ähnlich) wirklich zugetragen, sie ist allerdings nicht mir passiert. Sie ist traurig und aufrüttelnd und verschreckend, diese Geschichte. Doch sie ist wichtig und hat einen Mehrwert, den ich im Anschluss gerne einbringen möchte.

Diese Geschichte also findet in einem Auto statt. Als dieses Auto auf eine Kreuzung zufährt, wird der Fahrer darin von einem anderen Auto angehupt und ihm der Mittelfinger entgegengestreckt. Als das Auto stoppt – das Fenster offen – wird dem Fahrer des Autos vom Nebenauto aus zugerufen, welch „Schw*****“ er sei. Das Auto hat hinten einen Regenbogensticker mit der Aufschrift, dass Liebe nie falsch ist. Dies löste wohl im dahinter fahrenden Auto große Wut, Unsicherheit, Angst oder was auch immer jemanden dazu veranlasst, so zu denken und agieren, aus.

Der Fahrer des Regenbogenautos ist perplex. Was passiert da gerade? Kann das wahr sein? Die Wut in sich hochsteigen fühlend fällt ihm in diesem Moment nichts anderes ein, als den (leider noch sehr jungen) Menschen im anderen Auto zuzurufen: „Fangt an zu lesen!“.

Der Regenbogenautofahrer fährt weiter und ärgert sich über seine Reaktion. Er hätte besser reagieren sollen, für das Gegenüber verständlicher. Wütender. Schützender. Klarer.

Als er mir von dieser Geschichte erzählt, ist es ihm unangenehm, nicht „besser“ reagiert zu haben. Doch ich finde – und merke, je länger ich darüber nachdenke und je mehr ich mich darüber austausche – dass er wohl sehr weise, überlegt und einflussreich reagiert hat.

Denn.

Lesen bringts.

Geschichten lesen und Geschichte lesen. Das ist das, was uns noch irgendwie retten kann. Was uns weiterbringt und weitergebracht hat. Was uns näher bringt und hoffentlich viele, viele Dinge hinterfragen, neu denken, besser machen und uns selbst neu erfinden lässt.

Lesen bringts. Wirklich.

Ich spreche nicht von Tageszeitungen oder weißen-Männer-Medien. Auch nicht unbedingt von schöne-Welt-Romanen. Ich spreche von Büchern, von Artikeln, von Gedanken der Menschen, die etwas zu sagen haben (und viel zu lange keinen Raum gehabt haben). Von Menschen, die über ungemütliche Themen nicht länger schweigen wollen und können. Von Menschen, die ihre Sicht der Dinge nicht mit der absoluten Wahrheit, dem einzigen Geschichtsstrang, der alleinigen Macht über alles und jeden verwechseln.

Lesen bringts.

Und Zeit wirds, dass wir alle mehr von dem lesen, das uns aus dem „Happyland*“ hinausbegleitet, an der Hand nimmt und hinführt in eine Welt mit etwas mehr Rundumsicht. Damit solch sexistische, rassistische, heteronormative und längst-und-immer-schon-menschenverachtende Kacke sich nicht noch weiter verbreitet.

*Den Begriff „Happyland“ habe ich aus dem Buch „Exit Racism“ von Tupoka Ogette. Der Begriff beschreibt in diesem Kontext den Zustand, den weiße Menschen bewohnen, bis sie verstehen zu beginnen, dass Rassismus ein System ist, das die Regel bildet und nicht die Ausnahme. Dass wir alle rassistisch sozialisiert worden sind und es höchste Zeit ist, dieses „Happyland“ zu verlassen.

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