Da sitzt jemand und schaut aus dem Fenster. Die Landschaft zieht vorbei und wir sitzen in ihr, sind kurze Gäste des Ausblicks, der im nächsten Moment ganz anders aussehen kann.
Da sitzt jemand und studiert seitenweise Notenblätter. Vor ihr liegt ein Stapel dieser und sie blättert wie in einer Zeitschrift. Aufmerksam, als würde sie diese lesen. Ist sie eine Sängerin, Klavierspielerin, Posaunistin? Wie hört sich dieses Lesen in ihrem Kopf an?
Da sitzt jemand und erzählt am Handy lautstark von seinem Leben in der großen Stadt. Dass die Museen Schließtage haben und dass man bei Restaurants wirklich aufpassen muss, da man ohne Reservierung gar nichts bekommt. Am anderen Ende der Leitung spricht eine vertraute Person. Das kann man heraushören.
Da sitzt jemand und ist ganz ruhig. Lächelt immer wieder in unterschiedliche Richtungen. Sucht das Gespräch, zuerst mit den Augen, dann mit einer Frage. Ist älter als die anderen Menschen hier an diesem Tisch im Zug. Ich schaue in seine Richtung, er lächelt und bemerkt, dass es sehr schön ist zu sehen, dass wir (mein Mann und ich) uns so gerne haben. Das hat er wohl beobachtet, während wir über Zugsnacks und Kopfhörer gescherzt haben.
Da sitzt jemand und hat die Augen geschlossen. Da sitzt jemand und tippt in die Tasten. Da sitzt jemand und schaut gelangweilt ins Nichts. Da sitzt jemand und liest über österreichische Wörter in einem wissenschaftlichen Text. Da sitzt jemand und beißt genüsslich vom Brezerl. Da sitzt jemand im falschen Abteil, muss aufstehen und es verlassen. Da sitzt jemand und streckt sich. Da sitzt jemand und steht auf, geht auf und ab und setzt sich wieder.
Da sitzen viele und alle kommen irgendwoher und fahren irgendwohin. Alle hatten einen Morgen, bevor sie in diesen Zug gestiegen sind, und alle haben einen Abend, wenn sie diesen Zug verlassen.
In Zügen denke ich immer an eine der (leider) wenigen Physikstunden, an die ich mich noch erinnern kann: Züge sind Inertialsysteme. Selbst, wenn sie sich schnell bewegen, bewegen wir uns ihm gleich. Wie in einer Kapsel entfliehen wir der Geschwindigkeit, obwohl sie uns zügig von A nach B transportiert. Wir, die wir in diesem Zug essen und reden und schreiben und schauen und gehen und stehen, sind im gleichen System, in so vielfachem Sinne.
Da sitzen wir alle und teilen uns diesen Raum und die Reise für einige Stunden. Haben gemeinsame Ziele und sobald wir aussteigen, trennen sich unsere Wege. Vielleicht für immer.