Warum ich ab jetzt nicht mehr überall mitrede

Ich lerne gerade sehr viel. Wenig davon steht in Büchern, wenig bis gar nichts.

Ich lerne gerade, mich zurückzuhalten. Vor allem mit meinen Meinungen, Einschätzungen und allen voran mit meinen Worten.

Ich lebe dieses kleine Leben. Ein sehr schönes, angenehmes, einfaches, ruhiges, sicheres Leben. Und ich lerne jeden Tag mehr, was es heißt, all das nicht zu leben. Ich lerne jeden Tag, dass es so (SO) viele Dinge, Situationen und Geschichten gibt, die ich nicht nachempfinden kann. So viele Schicksale, Entscheidungen und Hintergründe, die nicht meine sind.

Wo ich das lerne? Wo ich auf einmal mit Geschichten in Berührung komme, die ich bisher nicht einmal gedacht habe, dass sie existieren? Auf den sozialen Medien. Ja. Wirklich. Dort sehe ich immer wieder Dinge, die mich staunen, wundern, aufmachen und nachdenken lassen.

Bevor ich mich beispielsweise auf Instagram angemeldet habe, habe ich geschimpft darüber. Hab es verurteilt, hab es abgestempelt und meinte, zu wissen, wovon ich sprach.

Und wie eine Linie, die sich durchzieht, habe ich festgestellt, dass genau das eine Metapher für so vieles ist, das ich auf Instagram lese, sehe und eben lerne. Bevor ich überhaupt gewusst habe, was dieses neue Medium kann, habe ich mich weit, weit hinausgelehnt aus dem Fenster der Urteile.

Ich weiß, ich weiß. Das hat niemandem geschadet und es gibt auch wirklich viel Blödsinn auf dieser (und anderen) Plattformen. Doch dieses Eintauchen und Kennenlernen von ganz neuen Ansichten, Geschichten und ja, eben auch Schicksalen, ist für mich eine ganz große Bereicherung.

Denn bei so vielem kann ich einfach nicht mitreden. Ich kann nicht nachempfinden, nicht nachfühlen, nicht nachahmen und daher eben ganz oft einfach auch nicht mitreden.

Für mich ist das ein äußerst großer Lerngewinn. Wie oft ich gemeint habe, eine Meinung haben zu müssen. Wie oft ich geurteilt habe, ohne im geringsten zu wissen, wie sich manche Dinge anfühlen. Wie oft ich Ratschläge, Tipps und gutgemeinte Worte von mir gegeben habe, in der Annahme, dass ich damit irgendjemandem helfe.

Doch ich kann bei vielen Dingen einfach nicht mitreden. Wenn es bis jetzt noch zu abstrakt war, dann gebe ich gerne ein paar Beispiele, bei denen ich einfach nicht mitreden kann:

  • Beim Thema (unerfüllter) Kinderwunsch, Schwangerschaft und Muttersein.
  • Beim Thema Rassismus (im Sinne von betroffen davon – denn ich war noch nie in meinem Leben selbst davon betroffen.)
  • Beim Thema Migrations- und Fluchterfahrung. Auch da habe ich weder einen persönlichen Einblick, noch irgendwelche eigenen Erlebnisse.
  • Beim Thema Armut. Ich habe noch nie in Armut gelebt, kann es mir dementsprechend wenig vorstellen, was das wirklich bedeutet.
  • Beim Thema Krieg, Gewalt oder Missbrauch. Auch das sind Themen, mit denen ich bisher glücklicherweise keine Erfahrungen gemacht habe.
  • Beim Thema schwere Krankheiten (psychisch und physisch). Auch hier sind meine Kontaktpunkte äußert dünn.

Und das ist nur eine kleine Zusammenfassung von Dingen, bei denen ich am besten mehr zuhöre, als selbst zu sprechen.

Doch ich möchte hier eines klarstellen. Dass ich nicht mitreden kann, heißt, dass ich am besten zuhöre, lerne und meine Schubladen weit aufmache. Dass ich nicht mitrede, heißt nicht, dass ich mich nicht einsetzen kann für etwas oder Menschen, die mit solchen Päckchen leben (müssen), unterstützen kann. Dass ich nicht mitreden kann, heißt, dass ich meine Worte vorsichtig wähle. Mit Bedacht und nicht mit Gutgemeintheit. Dass ich nicht mitreden kann, heißt nicht, dass ich keine Meinung habe. Es bedeutet, dass ich mir meine Meinung durch Umsicht und Zuhören, durch Aufmachen und durch Erfahrung bilde. Und vor allem, dass ich sie mir nicht zu voreilig bilde, meine Meinung.

Denn bei vielem, ja bei vielem, kann ich einfach nicht mitreden…

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